Der alte weise Mann aus den Bergen und die Älplerin.

Der alte weise Mann aus den Bergen und die Älplerin.

Auf einer meiner Nachbaralpen hauste ein alter Mann. Als ich ihn zum ersten Mal sah, war mir sofort klar, hinter diesem Menschen versteckt sich etwas Besonderes.  Ein grauer Bart zierte sein Gesicht. Seine Haut war braun und ledrig. Furchen an seiner Stirn und ausgeprägte Lachfalten um seinen Mund  gaben ein authentisches Wesen wieder. Klare Augen. Grau-blau. Einen gepflegten Eindruck machte er und er trug einen hellgrauen Filzhut oben auf dem Kopf an dem links 3 Federn hingen. Seine gebrauchte Engelbert-Strauß Hose fixierte er mit braunen Hosenträgern die sich am Rücken überkreuzten. Darunter trug er ein kariertes Hemd und ab und zu eine gestrickte Weste darüber wenn es zu kalt war. Bisher sprachen wir kein Wort. Nur ein Nicken von weiter Ferne aus, wenn man seine Kühe an der angrenzenden Weide holen musste.


Da saß er dann, mit seiner Pfeife und schaute mir zu.

Eines Tages gesellte ich mich zu ihm und fragte ob es bei ihm einen Kaffee oder Tee gäbe. Seine Mundwinkel hoben sich erfreut. Sein Lachen reichte bis zu den Augen. Er nickte, und ging ohne einen Ton zu sagen in seine Hütte und kam mit einem Holztablett, Kaffee und Tassen wieder zurück. Eine kleine Flasche Kräuterschnaps hatte er unter die Arme geklemmt. „Falls du einen Schnapskaffee haben möchtest“ sagte er als er das Tablett abstellte. Dann setzte er sich wieder hin und schwieg. Ich ebenfalls. Nach kurzer Zeit des Schweigens fragte ich dann „wie viele Jahre bist du schon hier oben?“

Seine Antwort „zu wenig“. Dabei sah er mich von der Seite aus leicht schelmisch an, als wollte er testen wie ich darauf reagiere und ob ich verstand. Ich nickte, denn ich glaubte zu verstehen was er damit meinte.


Hätte ich schon früher gewusst, was einem die Natur und die Berge geben, hätte ich wohl schon mehr Jahre hier verbracht.

Er setzte sich auf und schenkte Kaffee ein. „Hätte ich schon früher gewusst, was einem die Natur und die Berge geben, hätte ich wohl schon mehr Jahre hier verbracht.“

„Warum?“ fragte ich als wüsste ich nicht was er meinte.

„Weil du hier oben kein Spiel spielen kannst. Hier kannst du dich nicht ablenken lassen. Du bist eben einfach du. Natur, Berge, Ruhe, Weite und Leben“

„Wie meinst du das?“

„Naja, nehmen wir zum Beispiel meine Kinder und Enkel. Alle Leben in der Stadt oder im Dorf. Ich liebe sie alle, keine Frage. Aber sie alle spielen dort unten eine Show. Tag ein Tag aus leben sie in einem Hamsterrad. Nach außen hin und vor den anderen muss alles perfekt sein. Ja wirklich so perfekt sein.“  Kopfschüttelnd nahm er einen großen Schluck von seinem Kaffee. Kurz sagte er nichts. Ich auch nicht.

„Meinen Enkeln wird gelernt wie man ein Smartphone benutzt, Segen und Fluch zugleich. Die älteste Enkeltochter geht ungeschminkt nicht mal mehr aus dem Haus und in der Schule müssen sie besonders gut sein, studieren sollen sie später und… ach du weißt schon was ich alles meine…“ Abermals schüttelt er den Kopf.

Ich nickte, denn ich wusste wirklich was er meinte.


Immer wieder frage ich mich wann sie einmal aufwachen.

Immer wieder frage ich mich wann sie einmal aufwachen. Und weißt du was beunruhigend an dieser ganzen Sache ist? Sie wissen nicht mehr wo ihr Essen herkommt, sie wissen nahezu nicht mehr dass die Milch von der Kuh und nicht einfach aus dem Tetra Pack kommt. Wissen nicht wie man ein Salatpflänzchen oder sogar einen Baum  anpflanzt und zum Wachsen bringt. Jahrhunderte altes Wissen über Heilpflanzen und Kräuter, davon wollen sie nichts hören. Auch nicht davon wie man sein eigenes Brot bäckt, wie gut das schmeckt,  wie man mit Tieren umgeht und am allerschlimmsten, sie wissen oft nicht mehr wie man sich in einer geselligen Runde an einem Tisch unterhalten kann.“

Er seufzt. „Ach und schnell muss es alles gehen. Denn Zeit ist ja bekanntlich Geld… Und wir Alten? Ja wir Alten sind sowieso verrückt wenn wir uns auch nur trauen ihnen einen Ratschlag zu geben. Ja wir sind auch eingefahren. Stur. Verrückt. Alt. Doch weist du ich habe schon einige Jahre auf dem Buckel und in denen habe ich schon einiges erlebt und gelernt.“ Er lacht auf, als würde er gerade an etwas Schönes denken. „Ja ich habe wirklich schon einige verrückte Dinge erlebt.“

Dann schnappt er sich den Schnaps und gibt einen Schuss in seinen Kaffee.  Ob aus Frust oder vor Freude kann ich nicht ganz einschätzen. Aber ich vermute von beidem ein bisschen.

„Darf ich Fragen wie alt du bist?“ traue ich mich mit einem räuspern auszusprechen weil es mir unangenehm ist und ich weiß dass man das nicht unbedingt fragt.

Wieder schaut er mich schelmisch von der Seite an und lacht. Fast kann ich einen kleinen frechen Jungen in seinem Gesicht erkennen.


Bei dem Gedanken muss ich grinsen. Jung geblieben der alte Herr.

„Ich bin 72.“

Ich bin erstaunt. 72 Jahre alt, täglich macht er so eine harte Arbeit hier oben auf der Alp und man merkt es ihm kaum an. Aber vielleicht hält ihn gerade das so fit und frisch.

Meine Neugierde war geweckt.  „Dann hast du wohl wirklich schon viel erlebt. Magst du mir ein bisschen was davon erzählen?“

Verträumt schaute er mich mit einem leichten Schmunzeln an. Zu gern hätte ich gewusst was er sich gerade dachte. Und dann blickte er in die Ferne und begann zu erzählen. Ich lehnte mich einfach nur zurück und hörte zu. Wir saßen ewig so da, bis es ganz dunkel wurde und nur noch der Mond sein Licht über uns scheinen ließ. Umkreist von wunderschönen Sternen.


Er erzählte von frischen Kuhfladen die die kalten Füße wärmten.

Er erzählte von früher, wie er als Hirtenjunge die Kühe hüten musste und er weil es so kalt war in frische Kuhfladen gestanden ist um sich die kalten Füße zu wärmen. Von seiner ersten großen Liebe die auch seine letzte war, von der Liebe überhaupt, vom Glück, von Eichen an die man sich setzen sollte wenn man sich kraftlos fühlt, vom Mond und seinen Zeichen, von alten Bauernregeln die auch heute noch so sind, von Bauchgefühlen die einem immer den Weg zeigen…

Auch ich erzählte ihm Geschichten aus meinem Leben, über so manche musste er sogar lachen. Und bei manchem schüttelte er verständnislos seinen Kopf, worüber ich wiederum lachen musste weil es so typisch war.

Als ich mich verabschiedete und auf den Heimweg machte fiel mir auf was für ein schöner Abend das eigentlich war, wie ich so mit einem leichten lockeren Schmunzeln im Gesicht quer über das Feld stolperte. Was ich nur an diesem einzigen Abend alles erfahren durfte, was ich allein von seinen Erzählungen lernen konnte. Und plötzlich wurde mir bewusst wie wertvoll das eigentlich war. Und noch bewusster wurde mir dass das nicht ewig anhalten wird.


Denn wer weiß wie lange man von diesem alten Mann noch etwas lernen konnte,

Wer weiß wie lange er noch hier sein wird auf dieser schönen schönen Welt und uns etwas aus seinem Leben lehren kann. Ein Gefühl der Dankbarkeit breitete sich in mir aus. Und ich wusste dass ich in Zukunft öfters den Älteren lauschen werde. Denn irgendwann sind wir ohne sie und hätten so viel von ihnen erfahren können.

Aber vor allem wusste ich dass ich morgen wieder zu ihm gehen werde. Weil er Freude daran hatte und ich ebenfalls. Ganz einfach.