Und dann stehst du plötzlich da. Nackt. Vor dir selbst.

Und dann stehst du plötzlich da. Nackt. Vor dir selbst.

Wenn sich die Alpromantik wendet. Man kommt von Dorf, Stadt oder was auch immer auf die Alp. Nach kürzester Zeit merken so einige jetzt zählt plötzlich etwas anderes. Nach drei oder 4 Wochen hat meistens sogar der größte Städter bemerkt dass hier nicht ganz so viel Alpromantik herrscht wie man zu Anfang dachte.

Ja diese Alpromantik wendet sich. Es zählen von dem einen auf den anderen Tag andere Dinge. Komplett andere Dinge. Aber was? Arbeitszeugnisse und besonders gute Leistungen rücken in den Hintergrund. Geschniegelt und Gestriegelt sein weichen ebenfalls anderen Fertigkeiten. Auf einmal gibt es keine Show mehr. Denn jetzt zeigen sich wahre Gesichter. Und das alles 100 Tage am Stück. Ohne Ausnahme.

Ich kann mich noch sehr gut erinnern. Es war einer meiner ersten Alpsommer. Wir waren jetzt fünfeinhalb Wochen hier oben.Ich hatte schon jetzt mindestens 7 Kilo abgenommen. Meine Kräfte waren ziemlich am Ende.


Er zerrte jeden Tag ein bisschen mehr - der Alpalltag.

Ich stand morgens auf zum Kühe holen. Jedes Mal wenn ich aufstand schwor ich mir heute einen Mittagsschlaf zu machen. Ich fühlte mich so wahnsinnig ausgelaugt und ein wenig kraftlos. Und jedes Mal ging der Plan nicht auf. Entweder es sind irgendwo Tiere abgehauen oder wir mussten irgendwo einen Zaun machen oder sonst irgendwas ist passiert.

Wieder war es ein Morgen an dem ich hinausging. Jeden Schritt merkte ich in meinen Beinen. Jeden einzelnen wenn ich ganz früh im dunkeln hinausging und bergauf musste um die Kühe zu holen. Stille, Nebel und Kälte. Mit Stirnlampe stand ich mitten auf der Weide. Ich blieb stehen. Durch den Nebel sah ich nicht besonders weit und wusste deswegen auch nicht sonderlich gut wo ich hinlaufen sollte. Das schönste an der ganzen Sache war, dass ich mit leuchtender Stirnlampe fast noch weniger sah. Ich war ein wenig verzweifelt. Eigentlich nicht nur ein wenig, ich fühlte mich genau genommen ziemlich verloren.


Aussichtslos war in diesem Moment alles für mich.

Ich stand also da. Umklammerte meinen Hirtenstock. Mitten im Nebel. Mitten im Nichts. Ich merkte wie die Kälte durch meine Hände zog. Ein bitterer und zugleich leichter Schmerz. Meine Klamotten hingen an mir wie ein loser Sack. Ich fühlte mich hager und ausgelaugt. Von allem verlassen und hier abgestellt. Und dabei wurde mir die Ironie an der Sache ziemlich schnell bewusst. Ich hatte mich selbst hier her verpflanzt. Es war damals meine eigene Entscheidung gewesen.

Die letzten Tage waren hart. Zu hart. Ich musste einige Male über meine Grenzen hinaus an denen ich dachte es geht eigentlich nicht mehr. Ich schaue auf meine Hände. Gefurcht. Ein kleinwenig hornhäutig. Man sieht es ihnen an, die ganze Arbeit der letzten Wochen. Ja eigentlich die Arbeit meines ganzen Lebens. „Wohl kaum irgendetwas an Schönheit oder gar Weiblichkeit…“ Ich fühlte mich wie ein Häufchen Elend. Quasi Leid Christi in Person.

Da ich übermüdet war fror ich ein wenig. Verzweiflung, Einsamkeit und tiefe Traurigkeit mischen sich zusammen und fahren mir direkt unter die Haut bis tief in die Knochen. Ein komischer Moment. Eine Träne sucht sich einen Weg über mein Gesicht bis zu meinem Kinn.

Mir wird bewusst wie ausgeliefert und alleine ich gerade hier stehe. Völlig ungeschützt, ohne Klimbim, ohne Halt, ohne Accessor, ohne schön geschminkt zu sein, ohne eine besonders schöne Klamotte, oder einen besonderen Titel oder sonst irgendwas.


Einfach nur ich als Mensch. So wie ich eben hätte sein sollen.

Es war als hätte ich ewig in einem Theaterstück eine Rolle gespielt. Einen Text auswendig geübt der sich gut anhört. Und auf einmal merkte ich dass es vielleicht nicht die ganz richtige Rolle für mich war. Ich war ganz plötzlich enthüllt.

Ich weiß nicht mehr wie lange dieser Moment ging an dem ich dort so stand. Er kam mir jedenfalls vor wie eine halbe Ewigkeit. Selten habe ich etwas so tief empfunden.

Ich war Nackt. Ich Stand nackt hier. Vor mir selbst. Vor Gott. Vor allem. Es war so ein intensives und extremes Gefühl dass es sich kaum in Worte fassen lässt. Ganz kurz mischte sich ein wenig Scham unter dieses extreme Gefühl. So blöd das auch klingen mag, Scham vor mir selber.

Und auf einmal, als ich es fast nicht mehr auszuhalten schien. Es war wie ein Kampf. Dieses Extreme zu spüren und zu fühlen anstatt davor wegzulaufen und wegzuschauen. Auf einmal war es als würde sich etwas in mir tun. Die ganze Leere in mir drin schien sich langsam, ganz langsam auszufüllen. Es war als würde ich mich gerade mit mir anfreunden. Mit dem was ich eigentlich bin. Ich hatte irgendwie so eine Möglichkeit, auch wenn es zeitlich sehr kurz war, sich aber vom Moment her wie eine Ewigkeit anfühlte, zu mir selbst zu kommen. Das war wie der Beginn einer neuen Freundschaft. Eine kurze Begegnung. Ein kurzes Hallo.

Dieser eine Moment, an dem ich wirklich plötzlich völlig nackt dastand obwohl ich angezogen war. Diesen Moment werde ich nie vergessen.


Immer wieder dort oben, manchmal nur sehr kurz, für ein paar wenige Minuten, ab und an sogar für Stunden hatte ich das große Glück ganz und gar zu mir selbst zu kommen.

Dann sitze ich dort oben und bin dem Himmel schon ziemlich nahe. Sehe Adler fliegen. Wo das wort Freiheit eine ganz anderer Bedeutung hat. Sehe aber auch Murmeltiere die sich in ihren Höhlen verziehen. Wie verschieden doch die Definition von Glück sein kann.

Was ich daraus gelernt habe? Es gibt so viele Menschen die sich in irgendeine Form pressen lassen. Die so tun als wären sie ein Murmeltier, aber in Wirklichkeit sind sie ein Adler. Ob der Adler wirklich in einem Murmelbau glücklich werden würde ist die andere Frage.