Älplerleben, unrasiert, unzensiert.

Älplerleben, unrasiert, unzensiert.

Es ist einer meiner ersten Alpsommer. Der Wecker klingelt. Sehr früh. Für meinen Geschmack immernoch zu früh. Denn nein, man gewöhnt sich auch nach gut 70 Alptagen am Stück nicht an das frühe Aufstehen. Es ist gerade mal halb 4 morgens. Meine Haare sind zerzaust, mein Gemüt nicht, das schläft wohl noch. Mein Gesicht fühlt sich ziemlich zerknittert und verdrückt an. Ich weiß es aber nicht, da ich hier oben keinen Spiegel habe.

Ich schwinge mich also… nein ich hiefe mich aus dem Bett. Es ist kalt weswegen ich leicht gekrümmt da sitze. Meine Füße berühren den angenehm kühlen Boden. Ein lautes Knarzen des alten Holzbodens ertönt. So tapse ich mehr oder weniger stimmungsvoll mit dem melodischen Knarzen des Bodens in Richtung Lichtschalter.

Mein übergroßes T-shirt rutscht mir während des Herumhüpfens an einer Seite über die Schulter herunter und einer meiner dicken Wollsocken versucht sich provokant von meinem rechten Fuß davon zu machen. Ich ziehe ihn mit einer komischen Haltung halb hängend einfach hinter mir her. Kurz muss ich kichern da ich mir vorstelle wie lustig es gerade aussehen muss. Da ich keinen Spiegel habe weiß ich das aber nicht genau.

Licht an, Älpler wach. Leider nur die halbe Wahrheit. Mit halb zugekniffenen Augen und mich selbst umarmend weil es kalt ist laufe ich zum Waschbecken und putze mir die Zähne. Ich bin verdammt müde. Zähneputzend und aus Langweile schaue ich an mir herunter zu meinen nackten Beinen. Unrasiert. Es schimmert im Licht. Und es stört mich nicht.


Es ist mir gerade sogar ziemlich egal.

Es ist mir sogar ziemlich egal. Im nächsten Moment läuft mein Alpkollege, dessen Wecker schon den ganzen Sommer das Knarzen des Holzbodens ist wenn ich darüber hinweg laufe ebenfalls ins Bad ein.

Mit Zahnbürste und Zahncreme im Mund versuche ich ihm zu sagen, dass wenn ich einmal nicht aufstehe und verschlafe, wir quasi am Arsch sind, weil dann niemand aufsteht. Fragend schaut er mich an. Er versteht das natürlich akustisch nicht, ich selbst auch nicht. Deswegen kichere ich nach seinem verwirrten Blick vor mich hin. Ihn interessiert es nicht. Ich schaue wieder zu meinen Beinen. Dann wieder zu ihm. In sein Gesicht. Er merkt das nicht. Ich beobachte ihn. Er ist auch unrasiert. Hat eigentlich zu lange Haare die zu allen Seiten wegstehen wobei ich weiß dass sich das den ganzen langen Tag nicht ändern wird.


Unfrisiert. Unrasiert. Unzensiert. Wie ich. Und dann auch noch alles so unscheniert?!

Unfrisiert. Unrasiert. Unzensiert. Wie ich. Und dann auch noch alles so unscheniert?! Werfe ich künstlich schockiert in Gedanken ein. Ist das Freiheit? Frage ich mich daraufhin. Ja, es ist eine Auszeit von dem ganzen Perfektionismus den wir von unserer Gesellschaft gewohnt sind. Und nein, wir sind hier oben keineswegs ungepflegt, ganz im Gegenteil.

Ich verwerfe den Gedanken aber wieder, trotte nach draußen, es ist Zeit die Kühe zu holen. Mein Alpkollege richtet währenddessen alles andere im Stall her. Ich werfe mir meine Stallsachen über, bemerke ein Loch im Socken, ziehe die Gummistiefel an, merke dass ich meinen BH vergessen habe, beschließe kurzerhand – heute auch Freiheit für die Nippel,  verknote schnell meine ungekämmten Haare auf dem Kopf und erinnere mich daran, dass mich mein Frisör dafür schimpfen würde, würde er das sehen – macht ja die Haare kaputt. Ist aber praktisch und geht ganz schnell, antworte ich wieder gedanklich und trotzig zurück.


Wie viel näher ich dem dort oben bin. Sternenklar. Ich fühle mich frei.

Im Dunkel mit den Sternen über mir stapfe ich also nach draußen. Hole die Kühe. Mein Hund und Hirtenstock begleiten mich. Wie viel näher ich dem dort oben bin. Sternenklar. Ich fühle mich frei.

Wir stallen ein, melken, lassen alle Kühe wieder hinaus. Ich treibe die Herde vor mir her, mein Hund läuft links und rechts auf und ab. Hält sie links und rechts zusammen. Die Sonne kitzelt mir im Rücken weil sie gerade erst aufgeht. Danach wird der Stall sauber gemacht und wir sitzen am Frühstück. Sprechen den Tag mit seinen anfallenden Arbeiten durch. Heute bin ich mit dem Jungvieh dran. Ich packe also meinen Rucksack mit einer kleinen Brotzeit, einem Stück „Ersatzdraht“ und Isolatoren falls ich einen Zaun reparieren muss ein, lege noch zwei Zangen, den Zaunprüfer, einen Viehmarker und ein Wunddesinfektionsspray falls sich ein Tier verletzt hat mit dazu, wer weiß.


Mein Titel, ja der lässt sich heute nicht mit Doktor, Master, Diplomiert oder Geprüfter was weiß ich definieren. Genau genommen ist heute mein Titel mein Name und der Mensch der dahinter steht.

Dann ziehe ich los. Hinauf. Noch weiter hinauf wie ich sowieso schon bin. Rucksack, Hirtensock, Hund. Ich. Ich trage eine einfache alte, abgeschnittene kurze Jeanshose, meine guten Bergschuhe, einen schlichten  Pullover. Mein Hund folgt mir. Ich fühle mich wahnsinnig wohl und frei. Meine Schminke ist das Lächeln und die frische Luft die meinem Gesicht eine natürliche Farbe gibt.

Mein Style: Frisur egal und Hose rutscht. Mein bester Freund: gerade mein Hund weil er wie immer so  schön er selbst und treu ist. Die stylische Handtasche ein Rucksack der schon tausende von Kilometern mit mir gemacht hat. Mein Titel, ja der lässt sich heute nicht mit Doktor, Master, Diplomiert oder Geprüfter was weiß ich definieren. Genau genommen ist heute mein Titel mein Name und der Mensch der dahinter steht.

Das ist am Ende das „Ich“. So wahnsinnig unperferkt und Einzigartig. Aber genau das ist dann doch wieder ziemlich perfekt würde ich sagen.

 

Zurückgespult… Zeiten zuvor:

Vom Perfektionsimus getrieben perfekt zu sein, schön zu sein, bewundernswert, sehenswert oder ist es doch nur das eigentliche Thema? Das Streben nach Angerkennung und Liebe? Von Menschen die ich eigentlich, so wäre ich ehrlich, nicht mag?


Das alles zu Geld gemacht von Firmen die diese einfache Schwäche von uns allen nutzen um uns etwas verkaufen zu können?


Ich weiß es nicht aber ich bin genauso wie alle anderen in diesem Konsumstrudel von „ich kauf mir schnell ein bisschen Glück weil ich es selber nicht ganz hinbekomme“. Was wir dabei vergessen: gekauftes Glück hält nicht lange an. Man bekommt es nur ganz schnell und genauso schnell geht es auch wieder.


gekauftes Glück hält nicht lange an

Ein Strudel von Zeitschriften und Werbung im Fernsehen. Das perfekte Lächeln, die perfekte Intimrasur, der perfekte Partner, der schönste Wimpernaufschlag, das glitzerndste vom Glitzernden. Und ich? Mitten drin. Mitten drin mich anzupassen. Alles wird passend gemacht von mir selbst. Und meine sogenannten Vorbilder sind diejenigen die es eigentlich genauso machen.

Und warum das alles? Weil irgendwie alle dazu gehören wollen. Zu etwas das gar nicht exisitert.

Doch was ich und wir alle dabei am meisten vergessen? Uns selbst und ganz besonders die Menschlichkeit.

Oben am Berg angekommen weht mir der Wind durch die Haare. Ich liebe Wind.

Nassgeschwitzt setze ich mich nieder. Ich bin das Jungvieh durchgegangen und es war heute zum Glück alles in Ordnung. Mein Hund setzt sich neben mich. Legt seinen Kopf auf meine Beine um gestreichelt zu werden. Ein kurzer einfacher Moment des Glücks.

Wir laufen in Richtung See und mich überkommt die Lust hineinzuspringen. Kurzerhand löse ich mich von meinen Klamotten und hüpfe hinein. Splitternackt. Unrasiert. Unfrisiert. Unperfekt. Frei. Ich sehe zwar gerade Wanderer vorbei laufen, aber das ist mir völlig egal.

Und es fühlt sich an als wäre das auch richtig so.

….

Zurück von der Alp.

Heute mache ich eine kleine Einkaufstour. Ich habe mich schön angezogen, meine Haare sind gekämmt, ich habe auch keine Löcher mehr in den Socken. Bin ungeschminkt und absolut unperfekt. Manche Leute schauen mich länger an, schauen mir länger wie gewohnt in die Augen.

Ich empfinde das Anfangs als komisch, bis ein sehr viel älterer recht vornehm gekleideter Herr, als wir gerade in einer Schlange an der Kasse stehen mir wirklich lange in die Augen sieht. Ich weiche seinem Blick absichtlich nicht aus. Und er sagt plötzlich: „Das sieht man selten. Natürlichkeit. Das ist schön. Behalte das bei, es ist zur Seltenheit geworden.“ Mit diesen Worten nimmt er seine Einkaufstüte und schreitet davon.

Ich war vorerst sprachlos. Dann freute ich mich, und als ich hinter mir zwei kichernde Mädchen beobachtete die Zeitschriften, Schminke und ganz viel anderen Krimskrams in ihren Körben hatten, wünschte ich mir, dass diese Mädchen das alles wenn, nur für sich tun.